Die Macht der Bilder
Das Auffallendste und Wirkungsvollste an ihr aber ist die Macht der Bilder und Vergleiche. "Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe" (Matthäus 7,15). "Was siehst du aber den Splitter in deines Bruders Auge, und des Balken in deinem Auge wirst du nicht gewahr?" (Lukas 6,41). "Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, da sie die Motten und der Rost fressen und da die Diebe nachgraben und stehlen" (Matthäus, 6,19).
Die Bilder können sich zu einer Drastik steigern, die uns erschreckt: "Ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiß es aus und wirf’s von dir" (Matthäus 5,29). Und im Gleichnis vom Verlorenen Sohn spricht der Ältere, der fleißige Bruder: "Nun aber dieser dein Sohn kommen ist, der sein Gut mit Huren verschlungen hat, hast du ihm ein gemästet Kalb geschlachtet" (Lukas 15,30).
Die Gleichnisse sind eigentlich Lehrstücke, Kurzgeschichten, erzählt vor allem, um das als verwunderlich Empfundene anschaulich und annehmbar zu machen: daß der faule Sohn, der Herumtreiber, vom Vater gefeiert wird, als er heimgefunden hat, oder daß im Weinberg die Arbeiter, die erst in der letzten Stunde kamen, den gleichen Lohn empfangen wie die, "die des Tages Last und die Hitze getragen haben" (Matthäus 20).
Da verschlägt es einem die Sprache
Ihren Urgrund hat die Bildersprache dort, wo der Sprechende ein Bild, das allen Zuhörern physisch sichtbar ist, unmittelbar in Worte verwandelt. Da deutet Jesus auf eine Münze mit dem Porträt des Kaisers, um die Pharisäer, die ihn "fangen" wollten, mit dem Satz zu verblüffen: "So gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist." Und die Pharisäer "verwunderten sich sehr und schwiegen stille" (Lukas 19,26). Ja, Kinder lernen so begreifen, und Erwachsenen verschlägt es die Sprache. Die Knechte hatten recht, als sie sagten: "Es hat nie kein Mensch also geredet wie dieser" (Johannes 7,46).
Matthäus kommentierte von sich aus die Sprache der Bergpredigt: "Denn er predigte gewaltig und nicht wie die Schriftgelehrten" (7,29). Gewaltig: Das steht nicht in der englischen Bibelversion, sondern "wie einer, der Autorität hatte" (as one having authority); nicht in der französischen, sondern "als hätte er Autorität" (comme ayant autorité); und seit der EKD-Ausgabe von 1984 auch nicht mehr in der deutschen, sondern "er lehrte sie mit Vollmacht".
Die Welt bewegen
Das ist merkwürdig. Inhaltlich dem griechischen Original näher als Luthers Wort, in Anlehnung an den Spruch, den Johannes überliefert hat: "Meine Lehre ist nicht mein, sondern des, der mich gesandt hat" (7,16). Ist aber "Vollmacht" nicht ein juristischer Begriff, der Bevollmächtigung verwandt - bewegt es sich also nicht auf einer Stilebene, die Luther nie betreten hat und nach allem, was wir wissen können, auch Jesus nicht? Sollte es Luther gelungen sein, Jesus gleichsam direkt zu übersetzen, unter Überspringung des Evangelisten und der EKD?
Denn gewaltig muß er gepredigt haben und nicht wie die Schriftgelehrten, damals, auf aramäisch - wie sonst hätte er die Welt bewegen können?
Wolf Schneider, Jahrgang 1925, ist Sprachkolumnist der Neuen Zürcher Zeitung und der meistgelesene Stillehrer deutscher Sprache ("Deutsch für Profis", "Deutsch für Kenner", "Deutsch fürs Leben"). Schneider bezeichnet sich als "fröhlichen Atheisten"; die Bibel bewundert er als Sprachkunstwerk.
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